Geschrieben von Sebastián Teijeiro, Berater
In einer meiner liebsten akademischen Arbeiten hat Nicky Dries* unter anderem verschiedene Spannungen in Bezug auf Talent aufgezeigt:
- Objekt vs. Subjekt – was oder wer ist Talent?
- Exklusiv vs. inklusiv – wie verbreitet ist Talent in der Bevölkerung?
- Angeboren vs. erworben – kann Talent gelehrt und erlernt werden?
- Input vs. Output – worauf sollten Unternehmen bei der Auswahl achten?
- Übertragbar vs. kontextabhängig – ist Talent von seinem Umfeld abhängig?
Ich persönlich finde diese Spannungen faszinierend, vor allem wegen der unterschiedlichen Auswirkungen auf die Praxis. Am liebsten würde ich in diesem Artikel auf alle eingehen, aber ich werde mich nur auf eine davon konzentrieren: Exklusiv vs. inklusiv.
In ihrer Arbeit stellt Dries Folgendes fest: „Eine inklusive Perspektive auf Talent geht von der Annahme aus, dass alle Menschen begabt sind, aber auf unterschiedliche Weise; eine exklusive Perspektive hingegen basiert auf der Prämisse, dass einige Menschen von Natur aus begabter (und damit wertvoller) sind als andere – zumindest im Unternehmenskontext.“
Bevor wir einen Blick darauf werfen, wie Unternehmen ihre Mitarbeiter:innen bei jedem Ansatz bewerten, sollten wir zwei Dinge im Hinterkopf behalten:
- Der Begriff „Talent“ ist in der Unternehmenswelt nicht unumstritten und wird in der Regel auf viele verschiedene Arten definiert*.
- Diese Unterscheidung zwischen exklusiven und inklusiven Ansätzen sollte als Kontinuum betrachtet werden und nicht als zwei Gegensätze ohne Überschneidung.
Exklusiver Ansatz
Im Mittelpunkt des „Kriegs um Talente“* steht das Konzept der „Segmentierung der Belegschaft“ (auch bekannt als „Differenzierung der Belegschaft“). Bei diesem Konzept sollen Unternehmen ihre Mitarbeiter:innen anhand eines Segmentierungsrahmens (z. B. A-, B- und C-Spieler*) oder anhand eines 9-stufigen Rasters klassifizieren und überwachen, um dann die wertvollsten Mitarbeiter:innen bevorzugt zu behandeln. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Unternehmen unnötig hohe Kosten verursachen, wenn sie in alle Mitarbeiter:innen gleichermaßen investieren, obwohl sie sich eigentlich nur auf die Gewinnung, Auswahl, Entwicklung und Bindung von Spitzenkräften konzentrieren könnten, die den Erfolg des Unternehmens sicherstellen*. Die Idee ist, unverhältnismäßig viele Ressourcen dort zu investieren, wo eine unverhältnismäßig hohe Rendite zu erwarten ist* (20 % der Belegschaft oder weniger*).
Wenn Unternehmen diesen Ansatz zur Bewertung von Mitarbeiter:innen anwenden, suchen sie nach differenzierenden Faktoren oder Merkmalen und deren Abstufungen, um die Segmentierung vorzunehmen. Die aktuelle Leistung ist wichtig, aber für Unternehmen, die stark auf die Zukunft ausgerichtet sind, reicht sie nicht aus, da sie keine Vorhersagen über die künftige Leistung macht*. Daher stufen die Unternehmen ihre Mitarbeiter:innen danach ein, wie wahrscheinlich es ist, dass sie in Zukunft etwas tun oder sich zu etwas entwickeln werden. Hier kommen die High-Potential-Praktiken ins Spiel, und die Mitarbeiter:innen werden nach den „Komponenten“* ihres künftigen Erfolgs beurteilt. Diese „Komponenten“ werden in der Regel in Modellen zusammengefasst, und diese Modelle unterscheiden sich von Unternehmen zu Unternehmen (ebenso wie die Definition von „Talent“ und „High Potential“). Es ist schwierig, in einem kurzen Artikel eine Taxonomie von Potenzialmodellen aufzustellen. Der Einfachheit halber sagen wir, diese Modelle reichen von „wir wollen erfolgreiche Mitarbeiter:innen im Unternehmen duplizieren“ bis hin zu „wir wissen nicht, wie die Zukunft aussehen wird, also wollen wir die Eigenschaften bewerten, die den Erfolg unabhängig vom Kontext sicherstellen“.
Gegner des exklusiven Ansatzes argumentieren, dass Unternehmen durch die Konzentration auf einige wenige Mitarbeiter:innen die negativen Auswirkungen auf diejenigen vernachlässigen, die nicht als wertvoll angesehen werden (bis zu 80 % der Belegschaft), wodurch Motivation, Leistungsniveau, Engagement,Wahrnehmung von Gerechtigkeit und Fairness sowie Teamleistung* sinken. Sie argumentieren auch, dass exklusive Praktiken nicht notwendigerweise die Bindung (und damit die Rendite) von „High-Potential“-Mitarbeiter:innen sicherstellen, da diese dazu neigen, ihre Erwartungen so weit zu steigern, dass das Unternehmen sie nicht erfüllen kann, was dazu führt, dass sie zu anderen Unternehmen wechseln*.
Wir wissen nicht, wie die Zukunft aussehen wird, also wollen wir die Eigenschaften bewerten, die den Erfolg unabhängig vom Kontext sicherstellen.
Inklusiver Ansatz
Unternehmen auf dieser Seite des Kontinuums bieten personalisierte Ansätze für alle ihre Mitarbeiter:innen, je nach deren Eigenschaften und Bedürfnissen. Sie streben eine Leistungssteigerung auf allen Ebenen ihrer Belegschaft* an, indem sie allen Mitarbeiter:innen helfen, ihre Stärken auszuspielen und ihren Einfluss zu maximieren. Es geht darum, das Unternehmen als Ganzes weiterzuentwickeln, denn jede:r hat eine Rolle zu spielen und etwas beizutragen. Entsprechende Möglichkeiten sind die Eröffnung von Fortbildungsmöglichkeiten für alle Mitarbeiter:innen und die Gewährung von Aufstiegsmöglichkeiten für jeden Mitarbeiter/jede Mitarbeiterin als Ergebnis bewusster Übung und Leistungsverbesserung*. Dies trägt dazu bei, die allgemeine Arbeitsmoral, die Motivation, das Gerechtigkeitsempfinden, die Loyalität und die Mitarbeiterbindung zu verbessern, und ermöglicht es den Unternehmen, eine vielfältige Belegschaft zu entwickeln. Darüber hinaus können Unternehmen die Talentknappheit überwinden, indem sie verschiedene Formen von Talenten ausbilden, die für die Entwicklung ihres Unternehmens erforderlich sind*, und wenn jemand das Unternehmen verlässt, kann die Stelle mit internen Talenten* besetzt werden.
Unternehmen, die diesen Ansatz verfolgen, beurteilen Menschen mit dem Ziel, sie besser kennen zu lernen, ihre Stärken, Entwicklungsbedürfnisse und Antriebskräfte zu verstehen und sie mit diesem Wissen zu befähigen*. Dies ermöglicht es Unternehmen, auf verschiedenen Ebenen tätig zu sein. Auf individueller Ebene, indem die Führungskräfte in die Lage versetzt werden, das Beste aus jedem ihrer Teammitglieder herauszuholen, oder indem Mitarbeiter:innen ermutigt werden, voneinander zu lernen. Auf organisatorischer Ebene ermöglicht dieser Ansatz, ein vollständiges Bild der Talente zu zeichnen, ganzheitliche OD(Organization Development)-Strategien zu entwickeln und die Kultur zu verstehen (die Kultur von unten nach oben und nicht die von oben nach unten vordefinierte – und manchmal unrealistische – Kultur). Da keine Segmentierung erforderlich ist und die Arbeitsweise für die Zukunft darin besteht, die gesamte Belegschaft kontinuierlich darauf vorzubereiten, gibt es keinen Bedarf für High-Potential-Praktiken oder für die Etikettierung von Personen nach ihren Möglichkeiten.
Gegner des inklusiven Ansatzes argumentieren, dass die Entwicklung aller Mitarbeiter:innen im Unternehmen einen erheblichen Zeit- und Geldaufwand erfordert und dass aus rational-ökonomische Perspektive eine kosteneffiziente Praxis* darin besteht, nur diejenigen zu bevorzugen, die den zukünftigen Erfolg des Unternehmens vorantreiben werden (wenn z. B. das Schulungsbudget gleichmäßig auf alle Mitarbeiter:innen aufgeteilt wird, wird jeder Mitarbeiter/jede Mitarbeiterin am Ende nur wenig Schulung erhalten). Darüber hinaus argumentieren einige, dass diese Spitzenkräfte, wenn sie nicht bevorzugt behandelt werden, das Unternehmen verlassen könnten und der Wettbewerbsvorteil (oder der „Krieg um Talente“) verloren geht.